V#8 Die Kunst des Wägens
Die V#8 Die Kunst des Wägens. Essays heute erschien im Herbst 2001.
Editorial: Die Kunst des Wägens. Essays heute
Norbert Loacker
Eine Zeitschrift wie „V“ kann sich vornehmen, den Essay als aktuelle und vielfach genutzte Äusserungsform ins Blickfeld zu rücken. Viel mehr kann sie kaum wollen, sie sollte es auch nicht. Der konzeptuelle Eifer wird demnach aus guten Gründen in etwa jenem von wackeren Jägern oder Fischern glei-chen, die am frühen Morgen auf ein bestimmtes Wild ausrücken, im Ungewissen darüber, woraus genau am Abend ihre Beute bestehen wird – und was sie als guten Fang von dem noch gelten lassen, mit dem sie nicht gerechnet haben.
Was ein Essay seinem Wesen nach sei, ist durch die – für dieses Genre vergleichsweise kurze – Tradition so eng oder so weit definiert, wie die Essenz eines Dramas, Romans oder Gedichts. Wer sich anschickt, ein Phänomen, das ihn dazu provoziert, in einem Essay aufzubereiten und – der Herkunft des Begriffs von lateinischen ,exagium‘ gemäss – einem Prozess des Ab- und Er-wägens zu unterziehen, trifft zwar sicher manche handwerkliche und mentale Vorentscheidung. Doch wird er sich kaum, irgendeinem How-to zuliebe, als erstes nach den Grenzen zu den gewerblichen Nachbarn, etwa im Feuille-ton, umsehen. Oder höchstens dann, wenn er plötzlich nicht mehr sicher ist, den klassischen Auflagen der Gattung genügt zu haben.
Es gibt mehrere Qualitäten, die die Lektüre eines Essays zum Gewinn machen können: die unmagistrale Frontalität zum Gegenstand, dessen ungefestigter Rang im Kreis des Diskutablen, die prinzipielle, wenn möglich pointierte Ra-tionaliät, das anglofränkische Surplus der Unterhaltsamkeit. Im Reich des Grossen Meyer wurden sie alle einer anderen Eigenschaft nachgesetzt, die so zum formalen Signum des Essays aufstieg: seine diskursive Offenheit, das Unabgeschlossene und mutwillig Aspekthafte.
Seit aber das System so gar nicht mehr als universales Gütezeichen einer rationalen Architektur gilt, trägt auch die Imperfektion des Essays nicht mehr die Würde und Bürde einer singulären Alternative. Inzwischen hat sich das Unabgeschlossen-Unabschliessbare postmodern so felsenfest etabliert, dass kein Gesprächsmoderator auf die Klausel verzichtet, man sei natürlich auch diesmal wieder an kein Ende gekommen und wieder einmal blieben alle Fragen offen.
Wenn auch dem Essay eine Vorreiterrolle ins Provisorisch-Improvisierte nicht mehr wie früher zukommt, verdient er es doch um seiner Verdienste willen nicht, unter ein thematisches Joch gebeugt zu werden. Verbindende Themen für einen Sammelband gäbe es mehr als genug. Unter der Ägide aber eines jeden von ihnen wäre die sofortige Rache der bevormundeten Essays zu fürchten, ihre lustlose Selbstverwandlung in diensttuende Beiträge.
Der Herbst 2001 hat in die Schalen essayistischen Abwägens neue Gewichte gelegt und gewohnten Eichungen nachhaltige Schläge versetzt. Man wird es erleben (und kann es schon jetzt in unserem Band in manchen Texten), wie sich diese Kunst, in ihrer glasperlenspielerischen Attitüde zutiefst irritiert, in den Bedingungen einer neuen Verstörtheit zurechtzufinden sucht.