Andrea Gerster, Bleibender Schaden
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Andrea Gerster, Bleibender Schaden

Andrea Gerster, Bleibender Schaden

Christina Walker liest Bleibender Schadenvon Andrea Gerster

Das eine und das andere Leben

„Mit den zwei kurzen Schlägen traf Bergmann mich im Innersten.“ So beginnt der neue Roman von Andrea Gerster. Was für eine kühne Eröffnung, nüchtern beobachtend und nicht zuletzt deswegen von ungeheurer Eindringlichkeit und, ja, auch Brutalität. Der oder die Lesende begreift recht bald: Was auf den ersten Satz zutrifft, ist das grundlegende Muster dieser Geschichte.

Anda, die Erzählerin in „Bleibender Schaden“, ist Ergotherapeutin in einer sozialen Einrichtung, sie ist Ehefrau und Mutter erwachsener Zwillinge, die längst flügge sind. Den abwesenden Söhnen steht der überpräsente Luk gegenüber, Andas Mann. Die Schläge des Patienten Bergmann, der seine Aggression an seiner Therapeutin abreagierte, sind nicht die ersten, die Anda treffen.

Luk jedoch weiß seine Gemeinheiten seit Jahren subtiler zu setzen. Er tarnt seine körperlichen Übergriffe als Spaß, Versehen oder falsche Wahrnehmung durch Anda. Er redet ihre Freundinnen schlecht und versucht, Kontakte zu unterbinden. Er betrügt seine Frau zudem mit einer Arbeitskollegin. Als er das Ausmaß der Krise begreift, in die er Anda damit endgültig stürzt, bietet er Sühne an. Unter anderem Hausarbeit – während das Verhältnis weiterläuft.

Das alles offenbart uns Anda in Rückblicken, während sie neben ihrem blutenden Mann hockt. Er ist beim Staubsaugen gestürzt, oder besser: zusammengebrochen. Ein weiterer Schlag also. Diesmal ein Schlaganfall, vermutet die medizinisch geschulte Ergotherapeutin. Sie ruft den Krankenwagen. Oder tut sie es doch nicht gleich? Jede Minute zählt bei einem Schlaganfall. Anda holt sich jedenfalls den Wein aus der Küche und wartet auf Rettung. Für Luk – und für sich selbst.

Was uns Andrea Gerster in ihrem nunmehr sechsten Roman liefert, ist die ungeschönte Analyse eines Lebens, das irgendwann, irgendwie die Form und den Zusammenhalt verlor, die Anda ihm geben wollte. Weil es selten schön ist, Trümmer zu betrachten, flieht sie in eine Parallelwelt,  wo sie sich etwas Neues aufbaut: „In meinem anderen Leben bin ich in Ponte Brolla“, gesteht sie. Aber was, wenn Luks Schlaganfall bleibende Folgen hat – in diesem Leben? Wäre sie verpflichtet zur Care-Arbeit? Wären die Söhne eine Hilfe?

„Bleibender Schaden“ geht unter die Haut, ohne je bedrückend zu wirken. Anda zieht uns mit in ihre Geschichte, aus der sie die Reste von sich und ihren Hoffnungen zu bergen versucht. Wir vollführen mit ihr den Balanceakt zwischen Nüchternheit und Rausch, zwischen Wirklichkeit und Wunschtraum. Selbst die Sprache scheint souverän mit zu balancieren. Sie ist verführerisch leicht und so soghaft wie Andas große Leidenschaft: das Rolltreppenfahren. Rauf, runter, rauf. Im Gegensatz zum echten Leben alles völlig mühelos.

Andrea Gerster
Bleibender Schaden
Roman, Geparden Verlag 2025
ISBN: 978-3907406151
Gebundene Ausgabe, € 24,-