
Veronique Homann, Akut / Aigu
Claudia Endrich liest ,Akut / Aigu‘ von Veronique Homann
Ein Buch, zwei Titel. Nicht ohne Grund, denn dieses Buch können wir von zwei Seiten lesen. Egal, auf welcher Seite wir beginnen, steht am Anfang ein vorangestelltes Zitat. In der deutschsprachigen Version erschließt sich der Humor des Zitats nicht so rasch wie im französischen Original: „Den Akut zu verlieren, ist gravierend. / Perdre l’accent aigu, c’est grave“, sagt der Bürgermeister von Sarreguemines. Als einst strebsame Französisch-Schülerin wird mir sofort klar, weshalb das lustig ist: Der Accent grave ist das Gegenteil vom Accent aigu – ein diagonal von rechts unten nach links oben verlaufender Akzent, während der Accent aigu (oder „Akut“, wie er auf Deutsch heißt, was ich trotz meines strebsamen Französischstudiums nicht wusste) von links unten nach rechts oben verläuft.
Die Suche nach dem fehlenden Akzent
Dieser Auftakt führt direkt zum Kern von Homanns kurzem, eindrücklichen Text: Sie fragt sich, wo der Accent aigu auf ihrem Vornamen geblieben ist. Ihr Plan ist die Suche nach diesem Akut auf dem ersten E von „Veronique“, der im Französischen unerlässlich wäre, ihrem Namen aber fehlt. Sie weiß weder, warum sie überhaupt einen französischen Vornamen trägt (obwohl sie keinerlei französische Familienmitglieder hat), noch warum dieser dann so nachlässig geschrieben wurde. Ihren Eltern ist nicht bewusst, dass es da etwas zu suchen gäbe.
Die Autorin stößt während ihrer vierwöchigen Stipendienreise nach Frankreich in der kleinen Gemeinde Sarreguemines auf spannende Entdeckungen – ein Paradebeispiel für Serendipität, wie sie bemerkt. Serendipität bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und positiv überraschende Entdeckung erweist. Es geht um eine über einen Zufallsfund hinausgehende intelligente Schlussfolgerung, eine Bereitschaft, den Zufall zu erkennen und zu nutzen, wie Wikipedia mir freundlicherweise erkärt.
Homann nutzt einen solchen Zufall bereits bei der Wahl ihres Stipendienortes: Von drei möglichen Orten platziert sie intuitiv Sarreguemines, eine ihr unbekannte pittoreske Kleinstadt, auf dem zweiten Platz ihrer Präferenzenliste. Als ihr dieser Aufenthaltsort angeboten wird, entscheidet sie sich dafür. Dass ausgerechnet dieser Ort ihr Aufschluss über die Herkunft ihres Namens geben wird, ahnt sie nicht. Bereits im ersten Gespräch mit ihrem Vater über ihr Stipendium entdeckt sie, dass dieser eine ungewöhnliche Verbindung zu diesem Ort hat.
In denauf knapp 30 Seiten festgehaltenen Impressionen wird eines besonders spürbar: die gesteigerte Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, mit der sich die Autorin durch diesen Ort bewegt. Da ihr bewusst ist, dass er etwas mit ihr zu tun hat (auch wenn es tief in die Vergangenheit reicht), muss sie umso genauer hinspüren – und lässt uns mit ihr den Ort erspüren.
Weniger Ereignisse und Dialoge stehen im Mittelpunkt als vielmehr das Vor-Ort-Sein, das Sich-in-eine-neue-Situation-Begeben. Nach dem ersten Verspüren der Macht der Serendipität scheint Veronique bewusst zu beschließen, nicht strategisch strukturiert vorzugehen, sondern sich treiben zu lassen. Dieses Sich-treiben-Lassen führt sie in einen Justizpalast, in eine Haftanstalt, vor den Fernseher und in eine Kirche.
In einem kurzen Gedankenkapitel spricht sie den Accent aigu persönlich an, fragt sich, wo er geblieben ist, ob er sich aus freien Stücken von ihrem Namen verabschiedet hat. Und überlegt im Umkehrschluss, ob sie ihn selbst wieder einführen soll. Diese Reflexionen führen immer wieder zur Serendipität zurück – zu der Erkenntnis, dass vieles vom Menschen nicht beeinflussbar ist, gleichzeitig aber doch, weil der Mensch mit seinen bewussten Entscheidungen auf diese Serendipität hinarbeitet.
Der Text endet daher auch nicht mit einer klaren Antwort, sondern an einer Kreuzung, die in verschiedene Richtungen führt und an der die Autorin ratlos verweilt. Wir können stets in verschiedene Richtungen abbiegen, wissen nicht, was uns nach getroffener Entscheidung erwartet, sind dafür nicht alleine verantwortlich – und doch wählen wir eine Richtung. Ohnmächtig und mächtig zugleich gestalten wir unser Leben und unsere Erfahrungen.
Ob sie den Akzent auf ihrem Namen wieder eingeführt hat, bleibt offen. Auf dem Umschlag des Buches ist jedoch eine gelungene Zweideutigkeit entstanden: Die Autorin hat sich die Mühe gemacht, auf diesem schönen, von beiden Seiten lesbaren Bändchen direkt über dem betreffenden E in „Veronique“ jeweils ein Dreieck auszuschneiden. Das symbolisiert den Accent aigu überdimensioniert und löscht ihn gleichzeitig aus, da er fehlt. Man kann ihn als existent oder nicht-existent lesen – doch gerade die Thematisierung macht ihn existenter denn je.
Veronique Homann
Akut / Aigu
Les Éditions du Castel, FR-Sarreguemines, März 2025, 64 Seiten
ISBN: 978-2-9563782-7-3
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