
Sarah Kuratle, Chimäre
Tobias March liest ‚Chimäre‘ von Sarah Kuratle
Sarah Kuratles neustes Werk ist im Otto Müller Verlag Salzburg erschienen. Das Buchcover ist wunderschön, ein blauweißer Wolkenhimmel, ein rauschendes Meer, das an die Küsten einer Steininsel schlägt. Darüber mit goldener Schrift Chimäre und ein Frauenkopf, der nur zur Hälfte besteht. Die andere Hälfte kann als Helm oder Kopfschmuck, nach dem Lesen des Buches als Federkleid eines Vogels, verstanden werden – also eine richtige Chimäre, ein Mischwesen, das dennoch eine Einheit, ein Individuum bildet.
Kuratle entführt auf eine Insel, eine fantastische Insel. In hängenden Gärten lernen Schüler von Professoren alles über Pflanzen und Tiere, über ein Ökosystem und die darin vorkommenden Arten. Gärtner Gregor sieht zu alledem. Er hatte einen besten Freund, Alois, der eigentlich Alice ist und war. Doch Frauen dürfen im Kolleg nicht sein, obwohl man erfährt, dass auch die erste Direktorin der Schule eine Frau gewesen war. Als Alice die erste Blutung bekommt, wird sie vom Kolleg ausgeschlossen und geht.
Die Autorin arbeitet mit Kursivschreibungen statt mit Anführungszeichen für direkte Reden in ihren Texten und mit dem Stilmittel der Ellipse. Häufig lässt sie Wörter aus, dennoch ist alles für die Leser:innen gut verständlich, denn es ist klar, was für Wörter fehlen, wie bspw. bei „Weiter als zum Ende der Linie kommt sie mit Zeigefinder, Augen aber nicht. (S. 27) oder bei „Als er den Jungen von den Wolken holen, sich erklären, wehrte sie ab, schon gut, Gregor.“ (S. 47).
Es ist eine treibende, ineinander verwobene Sprache, die Kuratle heraufbeschwört. Sie spricht Umweltzerstörung von uns Menschen direkt an, übersalzte Flüsse, tote Fische, verpestete Luft durch Färbemittel: „…dort sind Blumenfelder, Rosen. Sie werden eingefärbt, mit buntem Pulver beschichtet. Warum. Es scheint, der Markt mag violett, zumindest jetzt. Nächste Woche, wer weiß, orange. Der Markt, du meinst, die Leute. Das Geschäft mit ihnen, das meine er. Euer Geschäft, meinst du. Der Mann räuspert sich, nicht mehr. Das Pulververgiftet den Boden, das Wasser. Pflanzen, Tiere, denkt Alice.“ (S. 97).
Ihre 10 Kapitel sind gefüllt mit kunstvollen, erschreckenden, berührenden und verwobenen Sätzen ihrer zwei Protagonist:innen, Alice und Gregor, und ihrer Reise zueinander.
Gregor bleibt traurig und verwirrt ohne Alois zurück. „Gregor, der ihn sonst mit Bleistift korrigierte, fährt jetzt diese Striche nach, wie einer heiligen, letzten Schrift. Er will, kann nicht abweichen. Du fehlst mir, er schlägt das Buch zu. Alois ist weg, nur ein Bild.“ (S. 48).
Im Kolleg trifft er Tera. Tera ist eine Heimatlose, eine Vertriebene, die wie ihre Volksgruppe von den Menschen verpönt und seit Jahrhunderten verspottet wird. Bei Gregor erspürt Tara tiefe Wunden des Traumas, das er als Kind und später als Schüler im Kolleg erlebt hat. „Nur Männer, sie meinten es nicht gut mit mir, als Kind, gebt mich frei, ruft er in die Stille. Ein Freund seiner Mutter zog ihn auf seinen Schoß, da war er sieben Jahre alt. Es war, als nähme ihn der Mann in Besitz. Gregor hing an ihm wie eine Puppe, die Fäden verwirrt.“ (S. 30).
Kuratle erzählt eine Geschichte des Traumas in Menschen, aber auch eine Geschichte des sich Wiederfindens, zumindest der Versuch.
Sarah Kuratle
„Chimäre“
Otto Müller Verlag, Salzburg 2025, 160 Seiten
Gebundene Ausgabe € 23,–
ISBN 978-3-7013-1334-1
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