Erika Kronabitters Delfine vor Venedig
19239
post-template-default,single,single-post,postid-19239,single-format-standard,bridge-core-2.8.9,ajax_fade,page_not_loaded,,qode_grid_1200,transparent_content,qode-child-theme-ver-1.0.0,qode-theme-ver-27.3,qode-theme-bridge,qode_header_in_grid,wpb-js-composer js-comp-ver-6.7.0,vc_responsive

Erika Kronabitters Delfine vor Venedig

Erika Kronabitters Delfine vor Venedig

Manuela Cibulka liest Erika Kronabitters Delfine vor Venedig

  1. Nov 2024 · Literatur

die lagune sehnt sich

Erika Kronabitter: „Delfine vor Venedig. Stadtbilder animiert reloaded“

Beinahe schon wieder in Vergessenheit geraten ist jene Zeit, in der die Medien von durch Venedigs Lagunen schwimmenden Delfinen berichteten. War man nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wenn man die Tiere nicht selbst gesehen hat, oder war es vielleicht doch eine Falschmeldung, und die Bilder wurden in Sardinien aufgenommen?

 

Erika Kronabitter – Schriftstellerin, Künstlerin und Initiatorin des Feldkircher Lyrikpreises – kann die Meldung nicht bezeugen, auch wenn sie gerne an deren Richtigkeit glauben würde. Als langjährige Besucherin der Lagunenstadt boten aber nicht nur die Delfine, sondern ihre gesammelten Entdeckungen Inspiration für den in der Edition Melos soeben erschienenen Lyrikband. In 50 Gedichten teilt sie ihre Gedanken- und Gefühlsbilder mit den Leser:innen und Venedig wird mit seinem Zauber, aber auch mit seinem Verschwinden, dem Wegbrechen und dem Verfall, wenn nicht nur der Mond, sondern auch „der Moder dämmert“, beinahe greifbar. Bereits auf einer der ersten Seiten wird man mitgenommen auf die Reise, wenn es mit dem Zug von Mestre nach Santa Lucia geht.

gedachte gerade

schienenfallen | oder | das fallen des festlandes
ein brechen der bahnlinie | links und rechts ein wegbrechen
der zug eine stabile | gedachte über dem wasser
gedachte gerade | konzept
kein einbrechen

aussteigen

Wellen, Gondeln, der Strand und die Gassen bevölkert und „bewandert“ von Touristen und Kindern, umkreist von „Scherenschnittmöwen“ und aufgescheuchten Tauben, und dazwischen immer wieder Brücken:

bögen brücken

flachschuhige chöre | ausgerüstet mit hüten aus stroh
das selfie schiebt sich | stufenweise über
bögen brücken
ein drängen | wogen: bald rechts bald links
in gassen | urlaubszitate für später
berührungslos gleiten die ratten in ritzen
stolpern lautlos | dem lärm zu entkommen
trügerische sicherheit | vor dem misslingen
an der spitze der insel atemlos frei die zuversicht

Eines jener Gedichte, in dem sich all das, was Venedig ist und auszeichnet, ungeschönt vermischt. Neben der Sonne und dem Leuchten auch der Regen und das Überschatten, neben der Unendlichkeit die Endlichkeit und neben dem Wogen das Versinken – alles findet Platz in den durchwegs in Kleinbuchstaben notierten kleinen „Bildern“, die alle für sich und doch gemeinsam stehen. Ein „lyrischer Stadtplan“, der einem weniger „Geh- sondern vielmehr Blickwege“ eröffne, meint Erika Kronabitter in einem Interview (mit Daniela Fürst, nachzuhören auf www.literadio.at). Hier erfahren wir auch, dass der Arbeitstitel des Buches „Venedig mit Freunden“ lautete. Auch wenn sie selbst die Erkundungswege am liebsten eigenständig beschreite, sich dabei unentwegt verirre, aber beim Sich-Zeit-Nehmen erst in Resonanz treten und Kleinigkeiten bewusst wahrnehmen könne, ist ein „Wir“ immer wieder in den Gedichten präsent. So findet sich beim Flanieren oft ein Gegenüber, und Gefühle und Sehnsüchte durchdringen die Straßen.

sind wir

verschwimmende bilder |die müdigkeit
wird überschüttet | überschattet sehnsüchte
vom lieben | rien ne va plus
sorgfältig bewohne ich den alltag
der sich in deinen |augen spiegelt

Lesarten in unterschiedlichste Richtungen sind erwünscht, ebenso die Suche nach versteckten Interpretationsmöglichkeiten oder auch das „Reduzieren der Blicke“, um eine Gedichtzeile zu zitieren. Und wer ein paar Tage Zeit findet im Herbst: Venedig ist immer eine Reise wert und Erika Kornabitters Gedichtband ein schöner Begleiter.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR November 2024 erschienen.

Erika Kronabitter: Delfine vor Venedig. Stadtbilder animiert reloaded, Reihe vers libre – Zeitgenössische österreichische Lyrik, Band 19, Edition Melos, Wien 2024, 84 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-9505459-2-0, € 26

Vorschau:
Lyrik-Queens und Klanglabor präsentieren: „Von Menschen, Fischen und Gespenstern“
Lesung mit Erika Kronabitter sowie Bettina Balàka und Patricia Brooks

 

Do, 23.1.25, 19.30 Uhr Theater am Saumarkt, Feldkirch

  1. Feb. 2025: 20.00 Uhr, Literaturhaus Liechtenstein, feat. Klanglabor

Valentinsbonus: Nach der welthaltigen Lyrik gibt’s eine Zugabe mit jeweils einem Liebes- bzw. erotischen Gedicht!

 

 

Petra Ganglbauer liest Erika Kronabitters Delfine vor Venedig

Nov 2024 · Literatur

 

Latente Melancholie

 

Im neuen Gedichtband von Erika Kronabitter gehen formale Strenge und das latente Gefühl von Melancholie, welche sich über die Gedichte legt, besser noch, mit ihnen schwingt, eine Synthese ein. Eine stete Bewegung wohnt den Szenen inne, die synästhetisch anmuten und dennoch – weitab von Überfrachtung – die Atmosphäre Venedigs (und in deren Spiegel die Befindlichkeit der Seele) einzufangen suchen. Wenn Arnold Schönberg von „Fasslichkeit“ sprach, dann lässt sich dieser von ihm so geschätzte Begriff ausgezeichnet auf die vorliegenden Gedichte übertragen. Sie verstehen sich als Versuch, Venedig, eine Stadt in ihrer unaufhörlichen Bewegtheit, zu übersetzen und eine Sprache dafür zu finden, die jenseits herkömmlicher Zuschreibungen und dennoch das Konkrete, Alltägliche nicht außer Acht lassend agiert. In „küssen wir uns“ beispielsweise:

 

verschiebt sich die grenze jedes mal

verschiebt sichverschiebt sich etwas

 

Endlichkeit

 

Eine Verrückung, Verschränkung von allem (mit allem) durchzieht das Geschehen und hält, besser stellt so als einziges fest, dass alles vergänglich ist. Die Stadt, das Ich, das Du. Der Körper. Die menschliche Existenz. Die Beziehung.

 

So heißt es etwa in „hüllenlos“:

 

die brücken  tragen das lachen zinnoberrot

etwas zu spät zu spät färbt sich der

cyanhimmel du hast

den platz noch nicht eingenommen

  kein wenn und aber

 

 die löwen

wachen über jeden schritt

warten schreiten über die Gräber

dort wo sie dich wo sie mich erwarten (…)

 

Während die Stadt pulsiert, wird sie nachgezeichnet: „wir fotografieren nach schräg unten“, das Geometrische, Abstrakte, „ein unerwartet“, das Akustische „rauschen sein“ oder „ein elliptisches geknurre“, „unsichtbare linien“. All das wird aufgezeichnet, registriert, gleichsam protokollarisch. Es ist nicht immer klar definiert, was sich vor das Auge schiebt, manchmal ist es verschwommen, als ob ein Weichzeichner darüber gelegt worden wäre, und dann gibt es auch diese „unschärfe der nacht“.

 

Zwischen den raumgebenden, raumgreifenden inneren und äußeren Bewegungen setzt sich der Tag nieder, genauer, der touristische Alltag: Das Promenieren, das Flanieren, das Schieben der Körper durch die Gassen Venedigs, die Cafés, die „gestützten“ oder „gestürzten“ Denkmale, die Biennale, Taubenschwärme, die „ozeanriesen“, welche aus dem Meer auftauchen und anlegen …

 

Doch es gibt auch einen anderen Blick. Jenen auf die Rituale der vor Ort lebenden Bevölkerung, von der man weiß, dass sie extrem unter dem Ansturm der Massentouristen leidet. Ein im besten Sinn hinlänglich bekanntes Ritual liest sich in dem Gedicht „wie klein ist“ wie folgt:

 

willst beobachten die einheimischen    ihr dasein

im milchigen morgen

ertasten „l’allegria“ verstehen ein zwei worte

aus geprächen erahnen an der bar

nippen kippen

caffè doppio cornetto zwei bissen …)

 

Jenseits des Klischees

 

Venedig, die Stadt der Kunst und der Geschichte, oft besucht, beinahe schon geplündert, ersteht in diesem Lyrikband noch einmal auf eine andere, ungewohnte Weise; hier wird die Metaebene sozusagen als anderer Blick (jenseits von Klischees), als konstitutives und – mehr noch – unverzichtbares Element eingebaut, um der Plastizität bekannter Szenen einen Kontrast zu bieten. Die Metaebene und mit ihr der Blick auf Strukturen, Körper, Linien, Bildausschnitte, Anrisse, Anklänge, ist gewissermaßen das Korrektiv für jenes Venedig, das wir kennen.

So ist dieser Lyrikband eine etwas andere Form der Annäherung an einen Ort (der eigentlich schon bald kein Ort mehr sein wird ), indem er auf die Reduktion der Stadt auf ihre Attribute weitgehend verzichtet. Und er ist eine Annäherung an die innersten seelischen Empfindungen des Menschen, an das, was uns alle betrifft und befasst.

 

Erika Kronabitter: Delfine vor Venedig. Stadtbilder animiert reloaded. Edition Melos, Wien, 2024. 57 Seiten. Euro: 26,–

 

 

Tobias March liest Erika Kronabitters Delfine vor Venedig

  1. Nov 2024 · Literatur

Erika Kronabitter nimmt uns Leser:innen im neusten Gedichtband mit ins heutige Venedig. „Stadtbilder animiert reloaded“ ist der Untertitel des Gedichtbandes „Delfine vor Venedig“ und dieser Untertitel ist Programm. Während die Touristen durchwegs schlecht wegkommen („flachschuhige chöre   |  ausgerüstet mit hüten aus stroh / das selfie schiebt sich  |  stufenweise über / bögen brücken / ein drängen  |  wogen: bald rechts bald links…“ S. 14) und vor Menschenmassen (Gedicht „wellenbewegung“ S. 54) sowie Luxusdampfern („kein geschrumpfter drohton stampfender/ motoren  | kein stundenlanges / vergiften der tauben“ S. 33) gewarnt wird, sind die Tiere in Kronabitters Lyrik Akteur:innen.

Fische, Delfine, Möwen, Tintenfische, Tiger und Löwen. La Serenissima ist tierisch. Da ist das Meer frühmorgens ein Tiger, reißt an Ketten, fällt über Häuser her, steigt im Zimmer hoch, aus Schächten und Ritzen – und doch endet Kronabitter poetisch „im Schimmelkreis die Welt entdeckend“ (S. 32). Fische und Delfine lassen sich nicht dirigieren und dressieren („welch ein schauspiel  |  würden jeden morgen / zwei dressierte delfine  |  ihre runden / drehen  |  würden durch den / canal grande flippern“ S. 51). Der Tintenfisch träumt und ruft der fernen Geliebten, ruft aus Eimern, spritzt Tinte aufs Pflaster, befleckt Strümpfe und Hosen.

Kronabitters Gedichte sind stark und lebendig. Einmal wird die Stadt über Pflastersteine gehend erschrieben (S. 9 „rio terra“), einmal über Zugstrecken (S. 10 „gedachte gerade“).

Besonders hervorzuheben ist das Gedicht „caffè del doge“ (S. 39). In diesem Gedicht wird Fremdheit beschrieben und Sprache – in unserer Zeit immer als Brückenbauerin und Integrationsmittel angesprochen – auch mal anders thematisiert: „hölzern dein italienisch / trennt / dich mehr als du zugibst.“

Liebe spielt eine wichtige Rolle – einmal Liebende, die nicht mehr von sich lassen können (S. 52 Gedicht „am strand“). Ein anderes mal wieder die Betrachtung der Liebenden in den Gondeln und der Gedanken, dass keines dieser Paare noch lange zusammenbleiben wird (S. 49 Gedicht „himmel und hölle“). Dass Liebe auch ein ständiger Gedanke an das Verlassen-werden bedeuten kann, thematisiert das Gedicht auf Seite 58 „ablieben“.

Akustische, bildhafte und intensive Stadtbilder – ein poetischer Blick auf die Stadt, der im Augenblick und in der Ewigkeit weiter anhält und sich in die Erinnerung einbrennt.