Feldkircher Literaturtage 2023 »Zu und Un Gehörig«
Über Klasse und Herkunft in der Literatur
Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux war eine der Ersten, die ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu zum Thema literarischer Werke erhob. Sie inspirierte Didier Eribon, der mit dem Essay Rückkehr nach Reims das Thema Klasse auch im deutschsprachigen Raum zur Diskussion stellte. Er war Schüler des Soziologen Pierre Bourdieu, dessen Studie Die feinen Unterschiede den Begriff des Habitus prägten. Zum Thema erschienen kürzlich einige Anthologien deutschsprachiger Literatur, wie Brotjobs und Literatur, sowie Klasse und Kampf. bell hooks (1952-2021), Autorin und Aktivistin, beschreibt in Die Bedeutung von Klasse ihren Weg aus der US-amerikanischen Unterschicht zu Wohlstand durch Bildung unter Berücksichtigung der Klassenfrage. Wesentlich sei die Erziehung zu einem kritischen Bewusstsein, das Privilegierte in die Lage versetzen kann, sich der Herrschaftsstrukturen zu entledigen.
Die diesjährigen Literaturtage beschäftigen sich mit dem Thema „Klassismus“, der Zugehörigkeit zu einer „Klasse“ und den damit verbundenen Diskriminierungen. „Dabei ist die Gruppe von weniger privilegierten Menschen nicht mehr mit der althergebrachten Arbeiterklasse gleichzusetzen, sondern ist vielfältiger und komplexer strukturiert,“ merkt die Expertin und Autorin Sabine Scholl an.
Es wird der Frage nachgespürt, wie der „Klassismus“ in der Literatur, ob thematisch, sprachlich oder als literarisches Erbe, repräsentiert und bearbeitet wird.
Die Kuratorinnen Marie-Rose Rodewald-Cerha und Sabine Scholl haben mit den Autor:innen Barbi Marković, Eva Schörkhuber, Karin Peschka und Dincer Gücyeter ein feines und inspirierendes Programm zusammengestellt.
Ausführliches Programm:
Donnerstag, 11. Mai 2023 – 19:30
Eva Schörkhuber und Sabine Scholl: Über bell hooks „Die Bedeutung von Klasse“
Die afro-amerikanische Feministin bell hooks verknüpft in ihrem Buch einen autobiografischen Zugang mit einer grundlegenden Gesellschaftsanalyse und Kulturkritik. Eva Schörkhuber wird in ihrem Vortrag untersuchen, ob und wie Hooks` Bericht von 2000 als Schwarze, feministische Intellektuelle auf heutige Verhältnisse anzuwenden wäre.
Eva Schörkhuber geboren in St.Pölten,studierte Germanistik und Komparatistik in Wien und Marseille, promovierte über Archiv- und Gedächtnistheorien, lebt und arbeitet in Wien, ist Mitglied bei PS – Politisch Schreiben und im Papiertheaterkollektiv Zunder. Gemeinsam mit Andreas Pavlic gab sie 2022 den Sammelband Vagabondage heraus. Ihr letzter Roman Die Gerissene erschien 2021. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Telling Sounds der Universität für Musik und Darstellende Kunst.
Sabine Scholl arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaften in Wien u.a. in Portugal, USA, Japan und Berlin. Sie ist im Beirat von PS-Politisch Schreiben, organisierte und moderierte die Reihe Geschichte Schreiben 2020, sowie Haben und Gehabe 2021 in Wien. Ihre letzten Publikationen sind der Essayband Lebendiges Erinnern – Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird 2021, sowie der Roman Die im Schatten, die im Licht 2022. Sie ist Mitgründerin des PEN Berlin.
Freitag, 12. Mai 2023 – 19:30
Lesung Barbi Marković und Karin Peschka, Gespräch mit Sabine Scholl
Die beiden Autorinnen Barbi Marković und Karin Peschka beschreiben in ihren Romanen Die verschissene Zeit und Dschomba Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft und der sozioökonomischen Rahmenbedingungen ihrer Umgebung Lebensbedingungen vorfinden, die sie stark prägen und aus denen es kein Entkommen zu geben scheint.
Barbi Marković geboren in Belgrad, studierte Germanistik, lebt seit 2006 in Wien. 2009 veröffentlichte sie den Thomas-Bernhard-Remix-Roman Ausgehen. 2016 erschien der Großstadtroman Superheldinnen, für den sie mit dem Literaturpreis Alpha ausgezeichnet wurde. Ihren letzten Roman Die verschissene Zeit von 2021 schrieb sie auf Deutsch. In dessen Zentrum steht eine Gruppe Jugendlicher, die in den 1990ern in einer Belgrader Sozialwohnbau aufwachsen, während Jugoslawien im Krieg zerfällt.
Karin Peschka geboren in Linz, lebt seit 2000 in Wien. Nach dem Besuch der Sozialakademie in Linz arbeitete sie unter anderem mit Arbeitslosen und Alkoholkranken. 2013 veröffentlichte sie ihren Debütroman „Watschenmann“, der mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. 2017 erhielt sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis und das Stadtschreiber-Stipendium der Stadt Klagenfurt. Mit ihrem Roman Putzt euch, tanzt, lacht stand sie 2020 auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis. Im Frühjahr 2023 erschien ihr Roman „Dschomba“.
Samstag, 13. Mai 2023 – 19:30
Lesung Dinçer Güçyeter
Wie auch Migration ein Faktor ist, der oft unweigerlich zu einer bestimmte Klassenzugehörigkeit führt und wie das Geschlecht diese noch verstärkt, das beschreibt Dinçer Güçyeter in seinem neuen Roman Unser Deutschlandmärchen.
Dinçer Güçyeter, geboren in Nettetal (D) ist Autor, Theatermacher, Lyriker und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf und absolvierte eine Lehre als Werkzeugmechaniker. 2011 gründete Güçyeter den ELIF Verlag. Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, 2021 erschien Mein Prinz, ich bin das Ghetto, das mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Sein Prosaband Unser Deutschlandmärchen, eine vielstimmige Familiengeschichte erschien 2022. Er ist Mitgründer des PEN Berlin.
20:15 Podiumsdiskussion: FEHL AM PLATZ? Über Herkunft, Anpassung und Widerstand
Moderatorin: Sabine Scholl
Teilnehmer:innen: Eva Schörkhuber, Barbi Markovic, Karin Peschka, Dinçer Güçyeter
11.-13.5.2023
WO:
Theater am Saumarkt, Feldkirch